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Jahr: 2024
/ Ausgabe: 2024_11_7_Presse_OCR
- S.17
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20er
„Wenn Menschen in Zelten hausen“, Seite 28+29
In Innsbruck stehen rund
7.000 Wohnungen leer.
Dennoch mussten Menschen
im Oktober ihre Nächte in
Zelten verbringen. Für
Experten eine „Katastrophe“.
Wie es dazu kommen konnte
und warum es diese Not
nicht geben müsste.
Text: MICHAEL STEGER
s ist eine Katastrophe, wenn Men-
E schen in Zelten schlafen müssen, ob-
%» wohl es leere Wohnungen gibt“, sagt
Michael Hennermann vom Verein für Obdachlose. Die Zahl der Wohnungslosen in Innsbruck
ist schwer zu ermitteln. Einen Richtwert gibt
eine Stichtagserhebung aus dem vergangenen
Jahr. Damals wurden von den Obdachloseneinrichtungen 504 Personen registriert, die
Dunkelziffer liegt darüber, denn nicht jeder
nimmt das Angebot, das Wohnungslosen zur
Verfügung steht, an. Eines der Angebote ist die
Notschlafstelle Schusterbergweg.
Sie ist die einzige der Stadt, die auch Notleidenden
einen Platz bietet, die keine Mindestsicherung beziehen. Betroffene können dort ihre Nacht in
Mehrbettzimmern verbringen, müssen in der Früh
jedoch wieder weg. Im Oktober wurde die Einrichtung für mehrere Wochen geschlossen. Schimmel, Bettwanzen und das Arbeitsinspektorat veranlassten die Verantwortlichen dazu. Die
Notleidenden mussten für die Zeit der Ungeziefer-
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Zelte als Ersatz für die
Notschlafstelle am Schusterbergweg,
® Michael Hörl
bekämpfung ein Ausweichquartier beziehen. Wo
im Winter das Rote Kreuz seine Winternotschlafstelle einrichtet, wurde ein Zelt errichtet — nicht
das erste. Schon zuvor hatten die Verantwortlichen
der Stadt jene Menschen, die in Campingzelten
unter der Grenobler Brücke hausten, auf dasselbe
Areal verwiesen.
Fast jeder kann betroffen sein.
Obdachlosigkeit ist ein Problem, über das man in
der Politik nicht gerne spricht. Obwohl es kein
Randgruppenproblem ist. „Schicksalsschläge, wie
etwa der Tod eines Partners, der Verlust der Arbeitsstätte, psychische Erkrankungen oder Sucht
können zur Obdachlosigkeit führen“, erzählt
Florian Stolz von den TSD, Betreiber der Notschlafstelle Schusterbergweg. „Wir betreuen auch
Menschen, die einer Arbeit nachgehen und dennoch nicht aus der Wohnungslosigkeit kommen —
jeder hat eine individuelle Geschichte”, ergänzt
Stolz und weist darauf hin, dass Menschen in Notsituationen erst einmal Sicherheit und Ruhe brauchen, die eine Notschlafstelle nicht bieten kann.
Elisabeth Hammer verweist auf Zahlen der Statistik Austria, nach denen österreichweit 369.000
Menschen angeben, in ihrem Leben schon einmal
wohnungslos gewesen zu sein.
Housing First und Chancenhäuser.
Hammer ist Geschäftsführerin des neunerhaus in
Wien. Dort setzt man mit Erfolg auf das, wie sie
sagt, „europaweit gefeierte” Housing First. Das
aus Finnland stammende Erfolgskonzept, das dort
Wohnungslosigkeit nahezu beendet hat, zeigt auch
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in Wien seit zwölf Jahren Erfolge. 93 Prozent der
Mietenden wohnen stabil und langfristig in den
über Kooperationen zur Verfügung gestellten leistbaren Wohnungen. „Für unsere Klientinnen und
Klienten ein Gamechanger“, so Hammer. Ergänzend dazu setzt das neunerhaus auf Chancenhäuser, wo junge Wohnungs- und Obdachlose eine
Unterkunft und Unterstützung auf dem Weg aus
ihrer Notsituation erhalten.
Tirol hinkt hinterher.
Auch in Tirol befindet sich Housing First für Frauen in einer Pilotphase. Wie Julia Schratz von Lila
wohnt berichtet, betreue man seit drei Jahren bis zu
zehn Wohnungen. Rückfälle in die Wohnungslosigkeit gibt es nicht, Schratz begrüßt, das Konzept,
das darauf abzielt, Menschen akut zu helfen und
die Hilfe nicht wie früher von Bedingungen abhängig zu machen, „Housing First ist ein globales
Erfolgskonzept”, so Schratz.
Für den Innsbrucker Armutsforscher Andreas
Exenberger ist klar, dass man Obdachlosigkeit beenden kann, wenn man es will. Er weist auf die
zwanzig Jahre geringere Lebenserwartung von obdachlosen Menschen hin: „Es ist eine Entscheidung der Gesellschaft, ob man denen, die aus einer
Notsituation obdachlos werden, hilft oder nicht.”
Für Soziallandesrätin Eva Pawalta (SPO) hingegen
gibt es „keine einfache Lösung“, das T’hema stehe
ganz oben auf ihrer politischen Agenda, aber eine
„Patentlösung für leistbaren Wohnraum gibt es
nicht“. Sie räumt auch ein, dass es noch keine
Nachfolge für die Notschlafstelle Schusterbergweg
gibt, die im nächsten Jahr geschlossen werden soll.
Und so stehen in Innsbruck wohl auch in Zukunft
7.000 Wohnungen leer, während Notleidende in
Zelten hausen.