Pressespiegel seit 2021
Jahr: 2024
/ Ausgabe: 2024_11_7_Presse_OCR
- S.18
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20er
Keinesfalls sollte man sich damit
trösten, dass die Gesamtheit der
blauen Wählerschaft wirklich
glaubt, dass ein „Volkskanzler“
Kickl die bestehenden Probleme
lösen könnte. Die Wähler wollten
ihre Parteien jedenfalls nicht mit
ihrer Stimme belohnen. Was aber
gerade den größten Wahlverlierer,
die ÖVP, nicht daran hinderte, sich
am Wahlabend in seiner Führungsrolle bestätigt zu fühlen.
Dies erinnerte nicht zuletzt an den
EU-Wahlkampf 2024 der Grünen,
an dessen Ende Vizekanzler Werner
Kogler, der trotz deutlicher Unmutsäußerungen seiner Wählerschaft gegenüber seiner EU-Spitzenkandidatin verkündete, dass man sich von der
Basis nicht in die Letztentscheidung
hineinreden lassen werde — Vorzugsstimmen hin oder her! Nach dieser
Ansage verstand selbst der treueste
Grünwähler die Welt nicht mehr.
Verfehlungen gegenüber der Wählerschaft gab es 2024 allerdings noch
mehr. So beispielsweise die Ankündigungen zum Budget und zur wirtschaftlichen Lage im Allgemeinen.
Während Kanzler Nehammer Zuversicht zu versprühen suchte, wurden
die Warnungen zum Budgetloch immer lauter, Die einzige Partei, die im
HERZ FRAGT, HIRN ANTWORTET - Die
Philosophin Lisz Hirn stellt sich monatlich
Fragen, die zum Nachdenken auffordern.
Motiviert Zorn
stärker als Angst?
Das Wahlkreuz als einziges Meinungsäußerungstool,
als Möglichkeit des Abstrafens, muss man ernst nehmen,
wenn Missfallen sonst nicht von der Regierungsseite
aufgegriffen wird. Was Angst nicht schafft, schafft
der Zorn vieler. Und dieser Zorn existiert über alle
Parteigrenzen hinweg.
Wahlkampf mehr als deutlich wurde,
waren die NEOS und deren Chefin
Beate Meinl-Reisinger. Und die Verantwortung abzuputzen, das wird
schwierig, ist doch gerade das Finanzministerium seit ewigen Zeiten
in den Händen der OVP. Dass sich
ausgerechnet OVP-Finanzminister
Magnus Brunner nun nach Brüssel
verabschiedet, mag auch manch einem in der OVP wie ein böser
Scherz erscheinen. Dass er dort allerdings das Ressort für Migration und
innere Angelegenheiten bekommen
hat, ist eine Ironie des Schicksals.
Ein Schelm, wer denkt, dass die
OVP letztlich doch noch die türkise
Suppe auslöffeln muss, die ihr Sebastian Kurz mit seinen vollmundigen
Ankündigungen, die Balkanroute im
Alleingang schließen zu wollen, eingebrockt hat. Auch die Grünen ha-
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ben den Zorn der Wählerschaft abbekommen, ihn aber wenigstens
nicht unterschätzt. Mit der OVP zu
regieren, hat einen Preis. Immerhin
hat es den Grünen möglicherweise
dabei geholfen, letztlich das Unpopuläre zu tun, was das politische Personal oft aufgrund strategischer
Überlegungen nicht wagt. Die Unterschrift unter das Renaturierungsgesetz kam einem politischen Märtyrertod der Heroine Gewessler gleich,
konnte womöglich aber den völligen
Absturz oder sogar erneuten Rauswurf der Grünen aus dem Parlament
verhindern. Diese „Klimahysteriker“,
wie sie die FPO nennt — übrigens
ein äußerst degoutanter Begriff, in
dem nicht nur eine fiktive Krankheit
vorkommt, sondern auch Misogynie
und die Leugnung des Klimawandels —, gilt es abzustrafen. Sie taugen
hervorragend als neue Sündenböcke,
die die nationale Gemütlichkeit gefährden. Wer will schon auf seinen
SUV verzichten, wenn der Nachbar
einen fährt? Und eine Einfamilienhaussiedlung mehr macht das Kraut
doch auch nicht mehr fett, oder?,
UNSERE KOLUMNISTIN LISZ HIRN
Die Philosophin, Sängerin und Autorin
Lisz Hirn lehrt philosophische Praxis an
der Uni Wien.