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Jahr: 2024
/ Ausgabe: 2024_08_19_Presse_OCR
- S.4
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Tiroler Tageszeitung
„Pflegeeltern warten über ein Jahr“, Seite 17
Pflegeeltern warten über ein Jahr
Bis leiblichen Eltern die Obsorge für Kinder entzogen wird, vergehen oft viele Monate, in einem Fall
dauert das Verfahren in Innsbruck noch länger. Eine belastende Zeit für die Kinder und die Pflegeeltern.
Von Matthias Christler
Innsbruck — In Tirol warten
immer Kinder darauf, bei Pflegeeltern ein neues Zuhause zu
finden. Doch auch wenn Paare
oder inzwischen auch Einzelpersonen gefunden werden,
die bereit sind, für ein Kind zu
sorgen, ist das Warten noch
lange nicht zu Ende. Die Anträge werden monatelang bearbeitet. Betroffene genauso
wie ein Mitarbeiter aus einer
Behörde haben der TT anonym geschildert, wie belastend diese Zeit ist. Und sie fragen sich, warum die Verfahren
nicht schneller abgewickelt
werden. „Es gibt zu wenig Gutachter, deswegen dauert es so
lange“, heißt es.
Bis die Gerichte nach einem Antrag der Kinder- und
Jugendhilfe den leiblichen Eltern die Obsorge entziehen,
vergehen tatsächlich oft viele
Monate. „In Ausnahmefällen
dauern die Verfahren über ein
Jahr“, sagt Raphael Hölbling,
Leiter der Kinder- und Jugendhilfe in Innsbruck. So einen
Fall habe man zurzeit, die Entscheidung ist nach mehr als einem Jahr beim Bezirksgericht
Innsbruck noch ausständig.
Viele Bindungsabbrüche
In der Regel lebt das Kind in
der Zwischenzeit in einer Einrichtung wie im Landeskinderheim in Axams oder bei einer
so genannten Bereitschaftsfamilie — das sind Familien, die
akut Kinder aufnehmen, mit
dem Wissen, dass man keine
Beziehung auf Dauer aufbauen darf. Die Kinder, die meist
im Alter zwischen 0 und 3 Jahren den leiblichen Eltern entzogen werden, erleben am Anfang ihres Lebens viel - oft zu
viel: Vernachlässigung, Überforderung, psychische Erkran-
kann und w
Je früher ein Kind zu den Pflegeeltern kann, desto besser. Bis eine Bindung zu an sich fremden Menschen aufgebaut wird, kann es dauern.
kungen oder Suchtproblematiken bei den Eltern, oder sie
erleben Gewalt und müssen
deswegen fremd untergebracht werden. Es kommt zur
ersten Abnabelung, dann die
Gewöhnung an die Situation
bei der Bereitschaftsfamilie,
dann wieder eine Abnabelung
und schließlich die Bindung
an die Pflegeeltern.
Es komme auch vor, so
Hölbling, „dass die leiblichen
Eltern froh sind, dass ihre
Kinder sicher untergebracht
sind“. In Verfahren, in denen
es länger dauert, würden oft
Verwandte auftauchen, zum
Beispiel im Ausland, und einen Antrag auf Obsorge stellen. Dann müssten neue Gutachten angefordert werden.
Am Bezirksgericht Innsbruck ist man sich der Problematik bewusst. Dass es zu
wenig Gutachter gibt, wird
indirekt von Matthias Walch,
Sprecher am Bezirksgericht,
bestätigt. Einerseits seien die
Anforderungen in diesem Bereich sehr hoch, sodass diese nur von wenigen Sach-
verständigen erfüllt werden.
„Andererseits sehen sich die
Sachverständigen in Obsorgeverfahren immer mehr - auch
persönlichen - Angriffen ausgesetzt, weshalb viele Sachverständige davor zurückschrecken, in diesem Bereich tätig
zu sein“, erklärt er.
Immer mehr Verfahren
Man hat eine begrenzte Auswahl an Gutachtern und diese
haben mehr zu tun, wie Zahlen vom Bezirksgericht Innsbruck zeigen: Waren es 2018
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Foto: iStock
noch 289 Obsorgeverfahren,
so wurden 2022 bereits 466
und 2023 447 bearbeitet. Darin enthalten sind nicht nur
Verfahren, nach denen die
Kinder zu Pflegeeltern gekommen sind, sondern auch
Streitfälle unter den Eltern.
Neben der Dauer für die
Gutachten würden, so Walch,
organisatorische Probleme
die Verfahren in die Länge ziehen: Beispielsweise sind das
fehlende und unzureichende
Adressen der Eltern oder beizuziehender Großeltern, die
Notwendigkeit, Dolmetscher
zu finden, lange Zustelldauern
im In- und Ausland, fehlende
Mitwirkung der Parteien oder
auch „die absolut legitime Erhebung von Rechtsmitteln
oder eine Vielzahl von Parteienanträgen“. Die Obsorgeverfahren, inkl. Streit zwischen
Eltern, dauerten am Oberlandesgerichtssprengel Tirol und
Vorarlberg 2023 im Durchschnitt 3,7 Monate.
Foto: Hrdina
‚ Für das Kindeswohl
wäre es das Beste,
dass die Verfahrenszeit
minimiert wird.“
Raphael Hölbling (Leiter Kinderund Jugendhilfe Innsbruck)
Derzeit steht in Innsbruck
bei drei Anträgen der Kinder- und Jugendhilfe die Entscheidung aus, ob ein Kind zu
Pflegeeltern kommen kann.
„Die kürzesten Verfahren dauern vier bis fünf Monate, im
Schnitt liegen wir bei sieben
bis acht und in Ausnahmen
dauert es länger als ein Jahr“,
rechnet Hölbling vor. Zu der
Verfahrensdauer hält er fest:
„Solche Entscheidungen dürfen nicht überhastet gefällt
werden. Da geht es um eine
der wichtigsten Entscheidungen im Leben. Für das Kindeswohl wäre es aber natürlich
das Beste im Sinne der Bindungsabbrüche, wenn die Verfahrenszeit minimiert wird.“