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Tiroler Tageszeitung

„Stein wurde zum Ein-Tages-Denkmal“, Seite 19

Szenen eines „Gedenkeinsatzes“: Am P

wo einst D

erschossen wurden, wird der 40-Kilo-Stein aufs Tragegestell gespannt (1, 2). Die Prozession führt unter anderem mitten durch die Triumphpforte (3), ehe?er Stein

zum temporären Denkmal wird (4). Alexander Jännemann wirkte in Uniform als Träger mit (5). Der ehemalige Militärkommandant Herbert Bauer plädiert für eine differenzierte Betrachtung des Themas Desertion (6). Fotos: Domanig (3), Fa (3)

Stein wurde zum Ein- Tages-Denkmal

Eine spektakuläre Gedenkaktion in Innsbruck rückte gestern das Tabuthema (Wehrmachts-)Deserteure in den
Fokus. Der Steintransport in die Innenstadt löste Zuspruch, Irritationen und spannende Diskussionen aus.

Von Michael Domanig

Innsbruck - Montag, 8 Uhr:
Trotz kühlen, trüben Wetters
hat sich am Paschberg, an einer schwer zugänglichen Stelle mitten im Wald, eine engagierte Gruppe eingefunden,
um einen außergewöhnlichen
„Gedenkeinsatz“ zu starten:
Ein großer Stein, vor Ort ausgesucht, wird auf ein Holzgestell geschnallt. Vier TrägerInnen schultern es und setzen
sich in Bewegung.

Mit dem 40-Kilo-Stein wird
ein brisantes, lange an den
Rand gedrängtes Thema symbolisch ins Herz der Stadt getragen: Im alten Steinbruch

am Paschberg wurden in der
NS-Zeit Wehrmachtsdeserteure hingerichtet. Genau daran
soll der Stein als „temporäres
Denkmal“ erinnern - und eine
generelle Diskussion über das
brisante, widersprüchliche
Thema Desertion anstoßen.
So lautet der Grundgedanke
der Aktion, entwickelt vom
Künstler Richard Schwarz für
die Reihe „gedenk_potenziale“ der Stadt Innsbruck.
Begleitet von einer Polizeieskorte führt die Prozession über die Igler Straße, zum
Bretterkeller, am Stift Wilten
vorbei, über die Grassmayr-
Kreuzung. Je belebter die Straßen werden, desto mehr neu-

gierige Blicke und Fragen löst
der „Gedenkeinsatz“ aus. Viele
Passanten wollen wissen, worum es geht, die meisten zeigen
sich nach einer kurzen Erklärung angetan und berührt.

Der Steintransport
löst aber auch Irritationen aus: „Hobt’s
es nix Bessers z’tian?“,
schallt es in der Leopoldstraße aus dem
ersten Stock.

Einer der wechselnden Träger, die den
Stein schultern, trägt
Uniform: Alexander
Jünnemann aus Lienz wirkt dort selbst

www.tt.com

im Bereich Gedenkkultur mit,
zugleich ist er Milizsoldat. Ihm
ist wichtig, ein lange unaufgearbeitetes Thema ins Bewusstsein zu rücken. Die
Idee mit dem Stein
lobt er als „aktive Gedenkkultur“.

Es sei „absolut
wichtig“, hier neue
Wege zu gehen,
meint auch Christine
Zucchelli aus Innsbruck, ebenfalls als
Trägerin im Einsatz,
„weil es mehr Aufmerksamkeit schafft
als herkömmliche
Formen der Erinnerung“. Sabine Neu-

Seite 9 von 19

ner aus Zirl hat einen persönlichen Bezug: Ihr Onkel war
als Wehrmachtssoldat in Norwegen im Einsatz, desertierte,
„weil er die Sinnlosigkeit des
Krieges“ erkannte —- und wurde erschossen. Auch Neuner
lobt das Gedenkprojekt. Und:
„Ich finde es toll, dass jemand
in Uniform mitgeht.“

„Viele Grauschattierungen“

Gegen 9.45 Uhr hat der Zug
die Spitalskirche erreicht: Dort
wird das Thema Desertion einen Nachmittag lang aus diversen Blickwinkeln diskutiert.
Ein Thema, das nicht schwarzweiß zu sehen sei, sondern in
Bezug auf individuelle Motive

und Spielräume der Soldaten „ganz viele Grauschattierungen hat“, wie Historiker
Philipp Lehar meint.

Herbert Bauer, ehemaliger
Militärkommandant von Tirol,
war anfangs „skeptisch“, was
die Aktion angeht. In intensiven Gesprächen mit dem Projektteam sei es aber gelungen,
„eine differenzierte Betrachtungsweise zu entwickeln, um
der Komplexität des Themas
Desertion gerecht zu werden“.
Denn angesichts der „Tiefe
und Schwere einer solchen
persönlichen Entscheidung“
seien „Pauschalverurteilungen in die eine oder andere
Richtung unzulässig“.