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Jahr: 2025
/ Ausgabe: 2025_02_18_Presse_OCR
- S.5
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Tiroler Tageszeitung
„Verunsicherung als Prinzip“, Seite 11
Verunsicherung als Prinzip
Der frühere Innsbruck-liest-Autor Jonas Lüscher
überlebte 2020 eine schwere Covid-Erkrankung.
In seinem Roman „Verzauberte Vorbestimmung“
ver- und bearbeitet er auch diese Erfahrung.
Von Joachim Leitner
Innsbruck —- 2020 wäre Jonas
Lüscher, 2015 mit seiner bitterbösen Novelle „Frühling
der Barbaren“ Innsbruckliest-Autor, beinahe gestorben. Fast sieben Monate lang
lag er nach einer Corona-Infektion im Koma. Maschinen
haben ihn am Leben erhalten.
Mit Maschinenwelten
und avancierter Technologie hat sich Lüscher schon
davor beschäftigt. Sein Roman „Kraft“ — 2017 mit dem
Schweizer Buchpreis ausgezeichnet - spielte im Silicon
Valley. Aber sein nun erschienener Roman „Verzauberte
Vorbestimmung“ — der etwas
verzopfte Titel versucht die in
der KI-Forschung gebräuchliche Formulierung „enchanted determinism“ ins Deutsche zu holen - wäre ohne die
Nahtoderfahrung wohl ein
anderer geworden. Einfacher
vielleicht - und auf jeden Fall
eindeutiger. Eigentlich habe
er Technik- und Kapitalismuskritik betreiben wollen,
sagte Lüscher jüngst. Doch
nachdem ihm Technik das
Überleben ermöglichte, blieb
Skepsis zwar angebracht,
aber es verboten sich voreilige Schlüsse. So einfach ist die
Sache nicht. Und „Verzauberte Vorbestimmung“ ist, auch
das muss gesagt werden, kein
einfaches Buch.
Im Gegenteil: Es ist sperrig, verquer, manche Sätze
schlängeln sich über halbe
Seiten - und die Erzählung
geht durch die Zeiten. Schadlos zusammenfassen jedenfalls lässt sich der Roman —
Die Zeit schlug das schöne
Adjektiv „verwildert“ für ihn
vor - nicht: Es beginnt, beinahe autofiktional, mit der
schweren Corona-Infektion des Protagonisten. Doch
selbst das ist zunächst nicht
klar, weil man, wie der Protagonist, nicht weiß, wie einem
geschieht. Die Erzählung entwickelt sich fiebrig, folgt einer
eher assoziativen Logik. Um
die Vergangenheit geht es,
um die Industrielle Revolution und um einen algerischen
Freiwilligen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs
— und um eine nahe Zukunft,
in der Cyborgs die Liebe kennen lernen. In der Gegenwart
landet der Roman in einer
albtraumhaften Retortenstadt in Ägypten.
Geniale Ungewissheit
Manche Passagen in „Verzauberte Vorbestimmung“ lesen
sich wie Reportagen, andere
suchen den Dialog, mitunter
auch die Debatte mit anderen
Texten. Gelesen muss man
Peter Weiss, dessen Erzählungen im Roman anklingen, oder
die theoretischen Verästelungen von Deleuze und Guattari
aber nicht haben, um sich im
Buch zu verlieren. Verlieren
freilich wird man sich aber
auch, wenn man den einen
oder anderen Bezugspunkt
tatsächlich kennt. Das Buch
hat etwas klebrig Kluges. Der
Text protzt mit Gescheitem
und seinem Gescheitsein. Gewissheit schenken aber auch
die genialsten Gedanken nicht
mehr. Auch das macht den Roman zur beeindruckenden Zumutung.
Lüschers oberstes Erzählprinzip ist Verunsicherung:
„Verzauberte Vorbestimmung“ setzt sich - darin dem
Verfahren von KI-Maschinen
nicht unähnlich — aus Versatzstücken zusammen, Auf- und
Angelesenem. Der Text reiht
Fragment an Fragment, wechselt Ton und Farbe, lässt Figuren erzählen, was ihnen von
anderen erzählt worden ist —
und macht im allgemeinen
Durcheinander etwas erahnbar, das man Hoffnung nennen könnte.
Roman Jonas Lüscher: Verzauberte Vorbestimmung. Hanser, 350
Seiten, 26,80 Euro.
Jonas Lüscher wurde mit der Novelle „Frühling der Barbaren“ bekannt.
2017 gewann er für „Kraft“ den Schweizer BuchpreiS. Foto: Peter-Andreas Hassiepen
Die Corona-Pandemie hat
in den vergangenen Jahren
auch auf dem Buchmarkt
Spuren hinterlassen. Neben
Sachbüchern — und vielen als
Sachbücher getarnten Streitschriften — erschienen auch
literarische Auseinandersetzungen. Gerade während der
ersten Lockdowns erlebten
zudem Klassiker, „Die Pest“
von Albert Camus zum Beispiel oder Boccaccios „Decamerone“, eine Renaissance.
Vom Journal zum Roman
Besondere Aufmerksamkeit erhielten Stimmen aus
Wuhan. Liao Yiwu etwa
zeichnete in seinem Dokumentarroman „Wuhan“ den
Ausbruch der Pandemie nach
— und prangerte die autoritäre Repression in China an.
Auch dort, wo es Seuchenschutz weit weniger rabiat
gelang, den Ausnahmezustand zum Alltag werden zu
lassen, machten Autorinnen
und Autoren ihre Reflexionen öffentlich: Zadie Smith
veröffentlichte Corona-Essays, Maja Lunde schrieb
„Als die Welt stehen blieb“. In
Österreich verdichtete Marlene Streeruwitz ihr Online-
Journal zu „So ist die Welt
geworden“. Die Befürchtung,
Corona-Texte könnten den
Buchmarkt fluten, realisierte sich nicht. Bisweilen waren Masken und Desinfektionsmittel Dekoration für
Gegenwartsromane wie Juli
Zehs „Über Menschen“. In
Gary Shteyngarts „Landpartie“ ist Corona Vorwand, acht
Freunde aus der Isolation
in die Eskalation zu treiben.
Norbert Gstrein erzählt in
„Vier Tage, drei Nächte“ vor
Pandemie-Hintergrund von
Liebes- und Machtspielen,
Missbrauch und Rassismus.
Heiterer: Der italienische Bestsellerautor Marco
Balzano beschrieb in „Cafe
Die Corona-Pandemie in der Literatur
Royal“ das Erwachen nach
den Lockdowns. Auch Rene€ Freund trotzte in „Das
Vierzehn-Tage-Date“ dem
Pandemie-Alltag komische
Seiten ab. Eine Bühnenfassung ist in Arbeit.
Kaum Corona-Theater
Die Theater, die während der
akuten Corona-Zeit geschlossen waren, hielten das Virus
weitgehend von der Bühne
fern. Eine Ausnahme bildet
Elfriede Jelineks „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“,
das den Bogen von der Antike bis zum Kitzloch in Ischgl
schlägt. (jole, APA)
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