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Jahr: 2022
/ Ausgabe: 2022_04_9_Presse_OCR
- S.5
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Tiroler Tageszeitung
„Ein Buch wie ein Mahnmal“, Seite 6
Ein Buch wie ein Mahnmal
Meriel Schindler stellte in Innsbruck die eindrucksvolle Chronik ihrer jüdischen Tiroler
Familie vor. Die Stadt Innsbruck verspricht in Sachen Erinnerungspolitik neue Akzente.
Von Michael Domanig
Innsbruck - Manche Bücher
sind ein Ereignis - und „Cafe Schindler“ zählt definitiv
dazu. Nachdem die 2021 erschienene englische Fassung
selbst Bestsellerautoren wie
Edmund de Waal („Der Hase
mit den Bernsteinaugen“) begeisterte, liegt Meriel Schindlers —- auch sprachlich brillantes-Werk über die Geschichte
ihrer jüdischen Familie nun
auf Deutsch vor. Dieser Tage
stellte es die Autorin, Jahrgang
1964 und Anwältin in London,
dort vor, wo sich ein Großteil
der beschriebenen Ereignisse
zutrug: in Innsbruck.
Das Buch dürfte auch hierzulande einen Nerv treffen:
Bei der Lesung, moderiert von
den Historikern Niko Hofinger und Noam Zadoff, gingen
im Plenarsaal des Rathauses
sogar die Stühle aus.
„Das Buch gehört nicht mir,
sondern dieser Stadt“, meinte
Meriel Schindler — und das ist
wohl durchaus ambivalent zu
verstehen. In einer zentralen
Passage beschreibt sie nämlich, wie sie Innsbruck nun,
nach ihren intensiven historischen Recherchen, teils mit
anderen Augen sehe.
Die Stadt ihrer unbeschwerten Jugend (mit 15 kam Meriel
für mehrere Jahre aus London
nach Trins und Innsbruck, wo
sie die Ursulinenschule besuchte) ist schließlich auch
der Ort, wo ihr Großvater Hugo in der Reichspogromnacht
1938 von NS-Schlägern auf
brutalste Weise überfallen
wurde. Und die Maria-Theresien-Straße verbindet sie
nicht nur mit dem mondänen
Cafe Schindler, das ihr Großvater und Großonkel 1922 eröffnet hatten, sondern auch
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Gewaltiges Interesse: Bei der Buchpräsentation mit Meriel Schindler platzte der Plenarsaal des Innsbrucker Rathauses aus allen Nähten. Fows: &ta Fak/TT
mit den späteren Naziaufmärschen.
„Cafe Schindler“ sei „eines
jener raren Bücher, bei denen
man sich schwer tut, sie wieder aus der Hand zu legen“,
lobte Historiker Horst Schreiber in seiner Einführung. Es
verbinde Universelles und Individuelles - und gebe vielen
Menschen ein Gesicht.
Zur weitverzweigten Verwandtschaft der Schindlers zählte z.B. auch Eduard
Bloch, jener jüdische Arzt, der
in Linz Adolf Hitdlers Mutter
Klara behandelt hatte — eine von vielen unglaublichen,
aber wahren Geschichten im
Buch.
Der Hauptfokus gilt aber
den Schindlers selbst, einer
komplett assimilierten Tiroler
Bürgerfamilie, deren Söhne
im Ersten Weltkrieg für Kaiser
und Vaterland kämpften, und
die es mit ihren Unternehmen
zu Wohlstand und Ansehen
gebracht hatten. Neben dem
titelgebenden Cafe gehörte dazu etwa auch eine von
Meriels Urgroßvater Samuel
Schindler begründete Fabrik
für Liköre und Marmeladen.
Mit dem immer aggressive-
‚ Ein Buch wird
nicht nur von einer
Autorin geschrieben. Es
gehört nicht mir, sondern dieser Stadt.“
Meriel Schindler
(Autorin)
ren Antisemitismus in Tirol
nahmen aber auch die Repressalien gegen die Familie stetig zu - und nach dem
„Anschluss“ wurde ihr alles
genommen, was sie sich aufgebaut hatte. In diesem Sinne
sei das neue Buch „selbst ein
Mahnmal — eine Erinnerung
an ein für immer verlorenes
Innsbruck“, meint Uniprofes-
Seite 5 von 16
sor Zadoff. Dennoch: „Man
konnte die Familie Schindler aus Innsbruck vertreiben,
aber nie Innsbruck aus dem
Herzen der Familie Schindler.“
Meriel Schindler setzt sich
im Buch aber nicht nur mit ihrem Verhältnis zu Innsbruck
auseinander, sondern auch
mit jenem zu ihrem Vater Kurt
(1925-2017), der als 13-Jähriger aus Tirol nach England
fliehen musste: „Mein Vater
war kein einfacher Mensch“,
sagt die Autorin. Mit seinen
Firmen erlitt er regelmäßig
Schiffbruch, er kämpfte mit
Gerichtsvollziehern und Gefängnisaufenthalten, habe zudem versucht, seine Töchter
„total zu kontrollieren“. Doch
mit der Arbeit am Buch habe
sie auch im Hinblick auf diese
schwierige Beziehung „Ruhe
gefunden“.
Versäumnisse sieht Meriel
Schindler indes in der Inns-
brucker Erinnerungspolitik — worauf Kulturstadträtin
Uschi Schwarzl (Grüne) in
ihrer Rede einging: „Die Stadt
stellt sich mittlerweile ihrer
geschichtlichen Verantwortung.“ Eine hochkarätig besetzte Kommission arbeite an
einem würdigeren Gedenken
an das Gestapo-Lager Reichenau (wo 1943 auch ein Cousin von Hugo Schindler, Egon
Dubsky, erschossen wurde,
Anm.). Und beim Wettbewerb für neuartige dezentrale
Gedenkzeichen für die Opfer des NS-Regimes würden
demnächst die Ergebnisse
präsentiert.
Auch Günter Lieder, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Innsbruck,
meinte, an Meriel Schindler
gerichtet: „Ich versichere Ihnen: Innsbruck ist nicht mehr
die Stadt, die Ihre Familie unter so tragischen Umständen
verlassen musste.“