Pressespiegel seit 2021
Jahr: 2024
/ Ausgabe: 2024_09_16_Presse_OCR
- S.4
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Gesamter Text dieser Seite:
Tiroler Tageszeitung
„Blutbad im Weizenfeld“, Seite 12
Blutbad im Weizenfeld
Eindrucksvolle Uraufführung von Lisa Wentz’ Schauspiel „Verlangen“ am
Tiroler Landestheater. Ein starkes Ensemble vor auffällig vielen leeren Plätzen.
Von Markus Schramek
Innsbruck — Saisonstart samt
Uraufführung im Großen
Haus des Tiroler Landestheaters (TLT) am Samstagabend.
Auffallend viele Sitze sind
leer. Der heftige Streit in der
Geschäftsführung über den
künstlerischen Kurs des Theaters hat Spuren hinterlassen.
Die Verantwortlichen sind
dringend gefordert, verlorenes Vertrauen des Publikums
zurückzugewinnen.
Das uraufgeführte Schauspiel „Verlangen“ hätte sich
jedenfalls ein volles Haus
verdient. Die junge Tiroler
Dramatikerin Lisa Wentz hat
im Auftrag des TLT Eugene
O’Neills Drama „Desire under
the Elms“ übersetzt und unter Verabreichung von etwas
Lokalkolorit umgearbeitet.
Wir hören (Tiroler) Dialekt,
aber keinen allzu breiten.
Der Despot und die Gier
Das zentrale Szenario des
Stücks ist direkt aus dem Leben gegriffen: ein wütender
Streit ums Erbe. Ausgetragen
wird dieser zwischen dem
despotischen Bauern Ephraim (großartig in seiner unnahbaren Härte: Christoph
Kail) und seinen drei Söhnen, die allesamt kampfbereit in Tarnanzügen stecken.
Möchtegern-Aufbegehrer
Simon (Patrick Ljuboja), der
vermeintliche Naivling Peter
(Florian Granzner) und Eben
(Tommy Fischnaller-Wachtler), der freche Youngster
des Trios, wollen ran an den
Zaster des „Alten“. Der aber
scheucht seine Nachkommenschaft wie Hunde davon.
„Ein Haus muss eine Frau
haben“, pocht der Hofherr
und Patriarch auf seine „Ordnung der Dinge“, die da lautet: Frauen haben zu buggln
und Söhne zu gebären. Zur
Untermauerung seiner Besitzansprüche zitiert der Bauer frömmelnd auf Knien die
Bibel. „Eine Frau muss ein
Haus haben“, entgegnet ihm
Agnes (so perfid wie fragil: Julia Posch). Sie ist des Bauern
dritte Frau, halb so alt wie er.
Ihr Eintreffen befeuert den
Konflikt um Haus und Hof.
Eine grausame Sippe
Es fließt (Theater-)Blut, sehr
viel davon. Nacheinander
hauchen sämtliche Männer
und die nach dem Hof greifende Agnes ihr Leben aus.
Übrig bleibt die von der grausamen Sippe verstoßene Mi-
na (kühl und präsent: Marie-
Therese Futterknecht) mit
ihrem Kind. Ihr fällt nun das
umstrittene Erbe zu.
Klingt ziemlich heftig,
doch Regisseurin Cilli Drexel
(Tochter von Ruth Drexel und
Hans Brenner) bewahrt „Verlangen“ vor dem Abdriften ins
Horrorfach. Zwischendurch
offenbaren sich gar Ansätze
einer ländlichen Idylle. Per
Video (Amir Kaufmann) wird
ein Weizenfeld eingespielt,
dessen Ähren sich im Wind
bewegen. Auch die dezente
musikalische Untermalung
kontrastiert mit dem schlussendlichen Blutbad. Und Au-
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Simon (Patrick Ljuboja, I.) und Peter (Florian Granzner) geraten mit Mina (Marie-Therese Futterknecht) aneinander.
torin Wentz lässt uns textlich
durchschnaufen, etwa wenn
sie Hochwürden attestiert, in
Sachen Dorfklatsch so firm zu
sein wie sonst niemand.
Gegenseitiger Lauschangriff
Das schlichte, abstrakte Bühnenbild (Vibeke Andersen) ist
gut gewählt. Die transparenten, an Großraum-Zelte gemahnenden Unterschlüpfe
eignen sich bestens, um sich
gegenseitig zu belauschen
und einander aufzulauern.
Da ist niemand sicher.
Das Premierenpublikum
dankt allen Beteiligten mit
ausgiebigem Schlussapplaus.
Foto: Birgit Gufler/TLT
Auch Lisa Wentz wird gefeiert. Die 29-jährige Schwazerin, 2022 für ihr Stück „Adern“
unter anderem mit dem Theaterpreis „Nestroy“ ausgezeichnet, schickt sich an, die
Tradition des Volksschauspiels in Tirol fortzusetzen —
auf längst überfällige Weise:
durch eine kritische, weibliche Sicht auf überkommene
Traditionen und die unerträglichen Auswüchse einer
von Männern dominierten
Gesellschaft.
Verlangen. Nächste Aufführung:
20.9., www.landestheater.at