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Jahr: 2023

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- S.21

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Der Standard

„Grüne im Klimaklebe-Spagat“, Seite 6

Grüne im Klimaklebe-Spagat

Die Grünen tun sich schwer im Umgang mit den Protestaktionen der Letzten
Generation. Der deutsche Vizekanzler Robert Habeck findet, sie seien „keine
Hilfe beim Klimaschutz“. In Österreich geben sich die Grünen sanfter.

Maria Retter, Max Stepan und Birgit Baumann aus Berlin

arnwesten, Banner,
Sonnencreme. Montag, 6.30 Uhr, im Innsbrucker Traklpark. Im

Schatten knorriger
Laubbäume bereiten
sich rund 20 Aktivisti und Aktivi: der

Letzten Generation auf den Auftakt vor. Es ist
der Beginn einer groß angekündigten Protestwoche in der Tiroler Landeshauptstadt. Ein
viel befahrener Kreisverkehr dient als Bühne.

Um kurz vor sieben Uhr treten die Protestierenden auf die Straße, ziehen sich die Westen über und klammern sich an ihre Banner.
Unter ihnen sind Menschen, die aus Graz und
Wien angereist sind, um die Tiroler Truppe zu
unterstützen. Viele wollen bis Freitag bleiben.
Angekündigt wurden Aktionen auf öffentlichen Plätzen und Straßen in Innsbruck. Hört
man sich um, so steht eine Ausweitung auf
andere (Tourismus-)Regionen und Ortschaften Tirols zumindest im Raum,

Es dauert nicht lange, bis der erste Autofahrer schreit. Ein Taxifahrer nach der Nachtschicht. Sie sollen ihn doch bitte durchlassen,
er wolle sich niederlegen und schlafen, ruft er
der Letzten Generation zu, Erbost, fast flehend. „Es tut uns leid“, sagt eine Aktivistin leise und wendet sich ab. „Wir wollen so lange
stören, bis gehandelt wird“, hört man auch an
diesem Tage des Öfteren. Es werde zu wenig
getan, um die Klimakrise abzuwenden, Mittlerweile ist die Polizei vor Ort, sie leitet den
Verkehr rasch um. Bald sitzen und stehen die
Protestierenden auf einer leeren Straße.

Habeck teilt aus

Hält Kleber doch normalerweise zusammen, was auseinanderklafft, so scheint er in
politisch grünen Gefilden die Geister zu spalten - sowohl hierzulande als auch in Deutschland ist das Verhältnis zwischen der Letzten
Generation und den Grünen schwierig.

Das zeigte sich auch am vergangenen Wochenende: Die Klimaaktivisten und -aktivistinnen nerven nicht nur viele Deutsche, son-

dern gehen auch so manchem bei den Grünen
viel zu weit. Robert Habeck, der grüner Wirtschafts- und Klimaschutzminister, hat gerade
erst wieder kräftig gegen die Bewegung und
deren Klebeaktionen auf den Straßen ausgeteilt: „Dieser Prozess verhindert eine Mehrheit für Klimaschutz. Es ist keine Hilfe beim
Klimaschutz.“ Zudem seien die Aktionen
nicht spezifisch genug, Der Protest mache die
„Leute nur zornig und ärgerlich“. Habeck
brachte auch seine eigene Familie ins Spiel. Er
und seine Frau haben vier Söhne. Also fragte
Habeck: „Hätte ich keine vier Söhne haben
sollen, weil dann der CO,-Ausstoß reduziert
wäre? Das ist hoffnungslos.“

In Deutschland hatte es zuletzt eine großangelegte Razzia gegen Mitglieder der Letzten
Generation gegeben, ausgegangen war die Initiative von der G l Itschaft in
München. Diese hat den Verdacht, dass es sich
bei der Bewegung um eine „kriminelle Vereinigung“ handle. Die große Mehrheit der
Deutschen ist mit den Aktionen der Letzten
Generation jedenfalls nicht einverstanden. 79
Prozent der von Civey für den Spiegel Befragten gaben an, sie hielten den Protest für „eher
falsch“ oder „eindeutig falsch“.

In jüngster Zeit hat die Letzte Generation
in Deutschland nicht nur durch Klebeaktionen auf sich aufmerksam gemacht. Sie konzentrierte sich auf Aktionen gegen Reiche. So
wurden auf der Nordseeinsel Sylt ein Privatjet und die Hotelbar eines Fünfsternehotels
mit oranger Farbe beschmiert. In Stuttgart
wurde Pflanzenöl auf die Straße vor dem Porschewerk geschüttet.

Ganz so drastisch wie in Deutschland bewerten die österreichischen Grünen die Protestaktionen nicht — wohl auch den unterschiedlichen Protestformen in beiden Ländern geschuldet. Es sei ohnehin nicht die Aufgabe der Grünen, einer Organisation auszurichten, welche Protestformen sie einsetzen
solle, sagt Umweltsprecher Lukas Hammer
zum STANDARD. „Unsere Aufgabe ist der
Kampf gegen die Klimakrise“, sagt er. Die Grü-

nen hätten für beide Seiten Verständnis, betonen Vertreter der Partei immer wieder: sowohl für die Protestierenden als auch für die
im Stau stehenden Autofahrer.

Ideologische Nähe

Die Anliegen der Letzten Generation sind
ideologisch sehr nah an jenen der Grünen,
Man stehe deshalb auch hinter vielen Forderungen, wie Umweltministerin Leonore Gewessler in der Vergangenheit mehrmals betonte. Maßstab sei aber immer, dass niemand
zu Schaden komme, Gebe es keine Gefährdung anderer Personen, „ist es ziviler Ungehorsam, und dieser hat auch Platz in einer
starken Demokratie“, reagierte Gewessler
etwa auf die Blockade der Wiener Südosttangente im Mai. Vizekanzler Werner Kogler
wehrt sich dagegen, die Letzte Generation als
kriminelle und terroristische Vereinigung abzustempeln, wie er zuletzt im Nationalrat erklärte. Dennoch sei es aber falsch, etwa
Kunstwerke zu attackieren — Kogler betonte
selbst, dass er einige Aktionsformen ablehne.

Dem schließt sich auch Umweltsprecher
Hammer an. Er habe Respekt vor Menschen,
die sich für den Kampf gegen die Klimakrise
einsetzen. Aber die gewählte Taktik bekäme
mehr Aufmerksamkeit als die Klimakrise
selbst. „Das ist umso bedenklicher, weil ein
großer Teil der Gesellschaft die Dringlichkeit
der Klimakatastrophe bis heute nicht realisiert hat.“ Ob Habeck mit seinen Aussagen
vom Wochenende recht habe? Das will Hammer nicht kommentieren.

Nach rund zwei Stunden Verkehrsblockade räumen die Protestierenden in Innsbruck
die Kreuzung und gehen im Schneckentempo
auf der Fahrbahn Richtung Innenstadt. Die
Polizei wird ungeduldig. Als die Gruppe sich
bei der Innbrücke wieder auf der Straße niederlässt, wird die Versammlung aufgelöst.
Mehrere Protestierende zücken Kleber. Zwei
Personen kommen den Beamten zuvor und
kleben sich an. Es ist das erste Mal, dass in
Innsbruck nach einer Auflösung geklebt wird.

Seite 21 von 24

Da steht sie, die Letzte Generation.
In dem Fall am Montag in
Innsbruck. Die Grünen sind sich
uneins: Der deutsche Umweltminister Robert Habeck reagiert
ablehnend auf die Aktionen,
Österreichs Vizekanzler Werner
Kogler ist zurückhaltender.

Fotos: Flarian Scheibie, Imago /Thomas Lohnes, Martin Juen

WISSEN

Beratungsreigen zu
Klimaklagen gestartet

Der Einsatz für mehr Klimaschutz verlagert sich in Österreich diese Woche von der Straße in den Gerichtssaal. Seit
Montag bis 2. Juli behandelt der
Verfassungsgerichtshof (VfGH)
mehrere Klimaklagen.

m Klage von Jugendlichen Zwölf
Kinder und Teenager sehen ihre
in der Verfassung verankerten
Kinderrechte und ihre Zukunft
durch fehlende Maßnahmen der
Regierung für Klimaschutz gefährdet. Sie haben den Antrag
eingebracht, Bestimmungen des
aktuellen Klimaschutzgesetzes
als unzureichend aufzuheben —
er wird nun weiterbehandelt.
Unterstützt werden sie unter
anderem von Fridays for Future.

m Klage von Global 2000 Ebenfalls weiterbehandelt wird die
Beschwerde von der NGO Global
2000, einer steirischen Gemeinde und drei Einzelpersonen. Sie
argumentieren, dass sich aus
Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht
nur eine Schutzpflicht des Staates zur Abwendung von Naturkatastrophen und -gefahren ableiten lasse, sondern auch ein Anspruch jedes Betroffenen auf Erlassung geeigneter Maßnahmen.

m Klage einer MS-Patientin Neu
dazugekommen ist der Antrag
einer Frau, die an multipler
Sklerose leidet und sich gegen
steuerliche Begünstigungen für
die Luftfahrt wendet. Diese verstießen gegen die Verpflichtung
des Staates, das Leben und die
Gesundheit des Einzelnen vor
den Folgen des globalen Klimawandels zu schützen, Die Frau
will geltend machen, wegen
ihrer Erkrankung von der Erderwärmung besonders in ihrer
körperlichen Integrität betroffen zu sein. (rach)