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Jahr: 2024
/ Ausgabe: 2024_08_14_Presse_OCR
- S.3
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Tiroler Tageszeitung
TirolerseTageszeitung
„‚Ermordet wegen 10 Kreuzer““, Seite 6
14.8.2024
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Die Mitglieder der Freiwilli
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hr Hungerburg bargen bei ihrer letzten P
”a
robe den Gedenkstein für eine ermordete
(WE
Foto: FF Hungerburg
„Ermordet wegen 10 Kreuzer“
In einem privaten Garten barg die Hungerburger Feuerwehr einen vergessenen Gedenkstein. Das Objekt
offenbart ein grausames Verbrechen an einer 7l-jährigen Innsbruckerin - vor mehr als 116 Jahren.
Von Benjamin Stolz
Innsbruck — Bei der letzten
Übung machten Matthias Egger und seine Kollegen von
der Freiwilligen Feuerwehr
Hungerburg eine traurige
Entdeckung. Aus einem privaten Garten, umwachsen
von hohem Gras und Moos,
bargen sie einen über 110 Jahre alten Gedenkstein. „Zum
Andenken an Frau Gretschi,
ermordet wegen 10 Kreuzer
hier oben am Gramartweg.
1908“ steht da in verblasster
schwarzer Schrift auf grauem
Hintergrund. „Unser Kommandant hat eine eigene
Konstruktion gebastelt“, beschreibt Egger die Bergung.
„Wir haben den Stein auf eine
Tafel gelupft, vorsichtig den
Pfad hinuntergezogen und
ins Auto gehievt.“
Egger ist nicht nur Feuerwehrmann, sondern auch
promovierter Historiker am
Innsbrucker Stadtarchiv. Er
kennt die Geschichte der
Hungerburg so gut wie sonst
kaum jemand. Im Zuge der
Recherche für ein im Herbst
erscheinendes Buch über
den Stadtteil war er bereits
zuvor auf die tragische Geschichte von Emmy Kretschy
gestoßen, wie der Name der
Frau in der Presse damals geschrieben wurde.
Von ihrer Geschichte weiß
Egger aus den Zeitungen,
die über den Fall ausführlich berichteten: Am 10. Juli
1908 machte sich die damals
71-Jährige von ihrer Wohnung in der Innsbrucker Colingasse vormittags auf den
Weg hinauf zur Hungerburg,
„um sich den neuen Wegnach
Gramart anzusehen“, wie es
’ Seit gestern Vormittag wird die
in der Colingasse [...]
wohnhafte [...] Emmy
Kretschy vermißt.“
11. Juli 1908
(Bote für Tirol und Vorarlberg)
im Boten für Tirol und Vorarlberg heißt. Als sie zu Mittag nicht, wie versprochen,
zurückgekehrt war, schlug die
mit ihr zusammenlebende
Schwester Alarm. Suchtrupps
aus Helfern, Förstern und der
frisch gegründeten Rettungsabteilung der Innsbrucker
Feuerwehr durchkämmten
das Gebiet. Dass zwei deutsche Touristinnen „von zwei
Strolchen verfolgt worden
waren“, ließ das Schlimmste erwarten. Schon tags darauf fand ein Waldaufseher
bei einer Weggabelung „links
im Gehölz“ die Leiche von
Kretschy. Die Innsbrucker
Nachrichten berichteten auf
Die Tote lag in
‚ ‚ ihrem schwarzen
Kleide, das sich über
dem einen Bein [...]
verschoben hatte.“
13. Juli 1908
(Innsbrucker Nachrichten)
mehreren Seiten. Während
die Leiche geborgen und in
die Obhut der Gerichtsmedizin überstellt wurde, lief die
Fahndung nach den mörderischen Strolchen auf Hochtouren.
Suche nach den Mördern
Auch ein Höttinger Waldhüter hatte die Verdächtigen
schon einmal gesehen und
sogar mit ihnen gesprochen.
„Verwegene Gesichter“ hätten ihm dabei entgegengeblickt. Verdingen würden sie
sich als Tagelöhner im Wegebau. Die Spur führte ins Höttinger Kirschental, wo sich
die Verdächtigen aufhielten
‚ Der [...] Fall hat
nun unter un-
serer Damenwelt man-
che Verängstigung
hervorgerufen.“
14. Juli 1908
(Allgemeiner Tiroler Anzeiger)
Seite 3 von 15
und später gestellt wurden.
Richard Giori aus dem Trentino und Luigi Piatesi aus dem
Königreich Italien hatten sich
Wochen zuvor einen Revolver
und ein Stichmesser gekauft,
Kretschy als leichtes Ziel anvisiert, ermordet und beraubt. Das gaben sie in einem
Schwurgerichtsprozess zu.
Ihre Beute: Bargeld im Wert
von heute ungefähr 24 Euro und eine goldene Uhr, die
das Opfer trug. Ein Autor des
Allgemeinen Tiroler Anzeigers
sorgte sich wenige Tage nach
dem Mord erst einmal um
die „Schädigung des Fremdenverkehrs“. Er kommt zum
Schluss: „Es wird in keinem
‚ Das Marterbild
[...] ist idiotisch
zerkratzt und mit
einer obszönen Zeichnung besudelt.“
28. März 1918
(Allgemeiner Tiroler Anzeiger)
Lande so für die Sicherheit
der Fremden gesorgt wie in
Tirol.“
Im September 1908 stellen
Bürger am Hungerburgboden einen Gedenkstein für
Kretschy auf. Der wird zehn
Jahre später von Schulbuben
„idiotisch zerkratzt und [...]
besudelt“ und im Anschluss
restauriert. Danach geraten
Mordfall und Marterl in Vergessenheit —- bis die Hungerburger Feuerwehr im Jahr
2024 einen Hinweis über seinen Aufenthaltsort bekommt.
Für Historiker Egger ist der
Stein ein Zeitdokument, aber
auch eine Lehre aus der Vergangenheit: „Die gute alte
Zeit war nicht so gut. Gewalterfahrungen waren im
Alltag damals gang und gäbe.“ Mit dem Feuerwehrauto transportierten Egger und
seine Kollegen den Stein erst
einmal zur Theresienkirche.
Dort steht er fürs Erste sicher
unter Dach und nicht mehr
vergessen im Gras abseits des
alten Gramartweges.