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Jahr: 2023
/ Ausgabe: 2023_07_10_Presse_OCR
- S.6
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Tiroler Tageszeitung
„‚Wir fühlen uns unerwünscht‘“, Seite 16
„Wir fühlen uns unerwünsch
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Ob versperrte Zugänge oder unzugängliche Toiletten — Menschen mit Behinderung wird
Kulturgenuss oft erschwert. Veranstalter wollen dies ändern, doch die Hürden sind hoch.
Von Judith Sam
Innsbruck —- Wer ein Konzertticket kauft, hat das Recht, die
Veranstaltung zu genießen.
Dieser Schluss läge nahe,
doch bei der Tiroler Volksanwaltschaft gehen immer wieder Beschwerden behinderter
Menschen ein, die daran gehindert werden. „Bei einem
Volksmusikkonzert wurden
Rollstuhlfahrer aufgefordert,
drei Stufen in abschüssigem
Gelände zu überwinden, um
zu ihren Plätzen zu kommen.
Ein anderes Mal mussten
sie zwei Geschoße emporgetragen werden. Zwar sollten Freiwillige dabei helfen,
doch die waren meist unauffindbar. Bei einem Rockkonzert war sogar der Fluchtweg
durch eine vor dem Lift achtlos abgestellte Palette Bier
verstellt“, schildert die Mutter
einer 27-jährigen Rollstuhlfahrerin im 7T-Interview. Ihren Namen möchte die Tirolerin nicht öffentlich nennen,
weil sie bereits genug Scherereien wegen dieser Probleme
mit Veranstaltern hätte.
An der Olympiaworld Innsbruck beanstandet die Mutter, die ihre Tochter stets zu
den Veranstaltungen begleitet, dass Rollstuhlfahrer vor
einer Scheibe sitzen müssten, die zu zerkratzt ist, um
hindurchzusehen: „Zudem
ist genau auf Augenhöhe ein
Haltegriff montiert.”
Olympiaworld-Geschäftsführer Matthias Schipflinger
entgegnet, dass die Scheibe
zwar nicht zerkratzt sei: „Die
Höhe des Geländers ist allerdings durchaus unpraktisch,
wenn man davorsitzt. Doch
sie ist baulich vorgegeben.”
Alternativ könnten sich Rollstuhlfahrer vorab bei seinem
Team melden: „Wirentfernen
einen Sitz im Parkettbereich,
wo der Rollstuhl Platz findet.”
Die Halle stammt aus dem
Jahr 1964, als barrierefreie Architektur noch kein Thema
war: „Im Rahmen von Umbauarbeiten haben wir 2004
einiges adaptiert und erhielten 2007 sogar die so genannte EAKS-Auszeichnung für behindertengerechtes Bauen.”
Diese Bereitschaft zum Umdenken und zu helfen nimmt
auch die Tiroler Volksanwältin Doris Winkler-Hofer wahr:
„Dach manche Verantwortli-
chen haben den Eindruck, sie
hätten einmal etwas eingebaut, und damit sei das Thema erledigt.” Dabei erinnert
sie sich an eine Dame, die
2022 in Kirchberg an der Beerdigung ihrer Oma teilnehmen wollte: „Der Treppenlift
funktionierte nicht. Sie hätte
also auf den Friedhof getragen werden müssen.” Das sei
nicht nur wegen des Gewichts
des Rollstuhls, das in diesem
Fall 140 Kilo betrug, problematisch: „Sondern auch wegen des Eingriffs in ihre Persönlichkeitsrechte.“
Inzwischen ist der Friedhof
laut Bürgermeister Helmut
Berger wieder barrierefrei zugänglich. Doch damals musste die Enkelin der Verstorbenen alleine, abseits der Kirche
Abschied nehmen.
Hannes Lichtner, Geschäftsleiter des ÖZIV Tirol,
einer Interessenvertretung für
Menschen mit Behinderung,
ergänzt, dass Barrierefreiheit
meist nur mit Rollstuhlzugang in Verbindung gebracht
wird: „Doch auch bei Adaptionen für Menschen mit kognitiver, Seh- und Hörbeeinträchtigung gibt es großen
Aufholbedarf.” Induktionsanlagen könnten Letzteren
etwa helfen, Konzerte ohne
störende Nebengeräusche
und in optimaler Lautstärke
zu genießen. Da diese Systeme aber sehr kostspielig sein
können, sei es wichtig, sie bereits während der Planung zu
berücksichtigen: „Manchmal
sind die Anlagen sogar eingebaut, doch Veranstalter vor
Ort kennen die richtige technische Nutzung nicht.”
Sehbehinderte wiederum
würden Leitsysteme benötigen, die manchmal nur bis
zum Ticketschalter leiten,
aber nicht in weitere Bereiche
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Das Konzertticket ist gekauft. Dodmuflfidu.mnßohmflflwbdsonunheünuühmgnldtnlhun"hflpügen?
der Veranstaltung.
Um dies zu verbessern, arbeiten der ÖZIV und das Land
Tirol Checklisten für Gemeinden aus. Anhand derer werden öffentliche Gebäude angepasst: „Thaur und Elmen
sind engagierte Pilotgemeinden. In Elmen wird der Dorfplatz bezüglich barrierefreier
Sitzplätze neu geplant.” In
Thaur optimiert man die Toilette des Veranstaltungszentrums für Rollstuhlfahrer.
Lobend erwähnt Lichtner
auch engagierte Veranstalter,
wie die des Krapoldi-Festivals,
einer Art Straßentheater, das
Ende August im Innsbrucker
Rapoldipark stattfindet.
Maria Plank, eine der Organisatorinnen, kennt die Umstände, die Barrierefreiheit
mit sich bringt: „Wir wählten
den Park, weil Behindertenparkplätze angrenzen und die
Wege nicht von Stolperfallen,
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wie Randsteinen, gesäumt
sind.” Da die Künstler in verschiedensprachigen Ländern
auftreten, sei der Großteil der
Programme nonverbal, also
auch für Hörbeeinträchtigte
verständlich. „Über Barrierefreiheit für Menschen mit Sehbehinderung haben wir uns
nicht drübergetraut”, gesteht
Plank. Zu umfangreich seien
die notwendigen zeitlichen
und finanziellen Ressourcen.
All diesem Engagement
zum Trotz ist das Fazit der
Mutter der Rollstuhlfahrerin negativ: „Wir fühlen uns
oft unerwünscht.” Ob wegen
Rollstuhlplätzen unmittelbar
vor lauten Musik-Boxen oder
unzugänglicher Dixiklos. „Ich
denke, die Situation bessert
sich erst, wenn Veranstalter
rechtlich zu optimaler Barrierefreiheit gezwungen werden, wie es etwa beim Brandschutz der Fall ist.”